Bach Mass in B Minor - Dunedin Consort - Klassik.com
Wird ein auf dem Tonträgermarkt so überreichliches Angebot an Einspielungen eines so bekannten Werks wie Bachs h-Moll- Messe durch eine weitere ergänzt, darf durchaus nach deren spezifischem diskographischem Wert werden. Wie steht es also um diesen Wert hinsichtlich der von dem audiophilen Label Linn Records veröffentlichten Neueinspielung des im Booklet als ‚most spectaluar choral work‘ im Schaffen Bachs apostrophierten Werks? Kurz zusammengefasst: Diese Einspielung sollte - ungeachtet dessen, wie viele Aufnahmen davon im heimischen Plattenschrank stehen - unbedingt gehört werden! Aus zwei Gründen: einem klanglichen und einem interpretatorischen.
Aufgenommen 2009 in Edinburghs Greyfriars Kirk ist diese Neueinspielung mit Dunedin Consort & Players unter John Butt ein herausragender Beitrag, der sich von den vermehrt auf äußerlichen Effekt setzenden neueren Wiedergaben wohltuend abhebt. John Butt ist nicht nur Dirigent, sondern ebenso ein bedeutender Musikwissenschaftler, der eines der abgewogensten, kritischsten Beiträge zu Geschichte, Idee und Ideologie Historischer Aufführungspraxis Bücher geschrieben hat (‚Playing with History‘, 2002). Dass er als Spezialist musikalischer Aufführungspraxis nicht die neuesten Moden mitmacht, sondern ein überzeugende Balance von historischer Reflexion und künstlerischer Impulsivität findet, zeigt sich nicht nur in dem glänzenden Textbeitrag im Booklet (der nur auf englisch zu lesen ist), sondern scheint - und das ist weitaus wichtiger - ebenso die musikalische Realisierung zu prägen.
Butts Besetzungsmaßgabe orientiert sich weitestgehend an der von Joshua Rifkin und Andrew Parrott geforderten ‚one-to-a-part‘- Besetzung, erweitert diese aber in Rückbezug auf Bachs Leipziger Besetzungspraxis in jenen im alten Stil gehaltenen, motettischen Sätzen und solchen mit üppiger Instrumentalbegleitung (zumal von Blechbläsern) zu einer Doppelbesetzung. So setzt sich der Chor des (bereits mit anderen hervorragenden Einspielungen in Erscheinung getretenen) Dunedin Consorts aus einem fünfstimmigen Prinzipalchor zusammen, der in einigen Nummern durch einen ebenso großen Ripienchor ergänzt wird. Wobei die erweiterte Besetzung nicht wie ein eingedampfter Kammerchor wirkt, sondern wie eine klanglich etwas vergrößerte Solistenbesetzung.
Doch auch in dieser Beziehung findet Butt einen eigenen Weg. Sein vokal durchaus überzeugendes Vokalensemble wirkt nicht so solistisch-inhomogen wie McCreeshs Vokalensemble in seiner Aufnahme der Matthäus-Passion, aber auch nicht so gerundet wie das in den jüngsten Aufnahmen von Pierlots Ricercar Consort. John Butt findet einen Mittelweg, der allerdings nicht beileibe nicht klingt wie ein Kompromiss. An den Stimmklang wird sich mancher Hörer erst gewöhnen müssen. Die Soprane pflegen ein eher knabenhaftes Timbre und geizen mit glänzender Stimmfärbung, und auch die Männer kultivieren einen Klang, der im Gegensatz zu hiesigen Sängern der Alte-Musik-Szene etwas raubeinig daherkommt. Aber das Ergebnis weiß vollauf zu überzeugen. Denn es mangelt den Sängern keineswegs an vokaler Beweglichkeit und expressiver Ausgestaltung der im Messetext angelegten Ausdrucksfärbungen, auch wenn der Grundklang durchaus kernig ausfällt.
Im Gegensatz zu manch neumodischer Ausdruckswucht setzt John Butt auf höchste Transparenz und aus der Musik entwickelte Gesten, nicht dem musikalischen Fortgang übergestülpten interpretatorischen Spleen. Und so gewinnen einige Nummern der h- Moll-Messe eine gravitätische Würde, die sie auch in weitaus größer besetzten Einspielungen schon lange nicht mehr hatten (z.B. 'Kyrie eleison', Teile des 'Gloria' oder auch 'Gratias'). Dies aber wird, wie auch die sehr bewegten Sätze, bestimmten Sätze von einem nach vorn zielenden Impetus getragen - das konsequent modellierte vertikale Element, die einzelnen, sehr durchsichtig gemachten Linien zieht die Musik vorwärts. Ebenso überzeugend wie auch der Vokalpart agieren die Instrumentalisten. Ohne unmotivierte Aufrauhung des Klangs unterstützen sie die Sänger, sorgen für spezifische Einfärbung und Plastizität des Klangbilds.
Daneben - und das ist die zweite der oben genannten Grundlagen für die Güte dieser Produktion - ist die klangliche Umsetzung durch die Toningenieure von Linn schlichtweg grandios gelungen. Die dynamischen Staffelungen kommen wunderbar heraus, die von den Sängern und Instrumentalisten ausgeformten weiten, spannungsreichen Bögen wirken klanglich sehr dicht, das Farbspektrum ist so satt wie selten zu hören. John Butt legt damit eine weitere Einspielung vor, an der es wenig zu kritisieren gibt. Aber sehr viel zu loben - und zu hören!